Am Himmel kreisen drei Rotmilane auf der Suche nach Beute und ein paar Meter weiter und eine Etage tiefer hat der Storch seine Mahlzeit offensichtlich schon gefunden. Die Wiesen am Dorfrand von Sehlde sind ein kleines Paradies für Vögel und für allerlei anderes Getier. Aufgrund der besonderen Bodenbeschaffenheit – über weite Flächen findet sich hier ein Niedermoor – ist nicht jeder Quadratmeter beackert, sondern Wiesen, Wäldchen und Ackerflächen wechseln sich ab. Das sieht idyllisch aus – und es ist kaum vorstellbar, dass sich hier in wenigen Jahren zwei Großprojekte kreuzen sollen, die derzeit in Niedersachsen in aller Munde sind. Die K+S – Pipeline, durch die Salzwasser aus dem Kaliabbau in Hessen in die Nordsee fließen soll, und die Stromtrasse Südlink, die Windstrom in die entgegengesetzte Richtung transportieren will, treffen sich möglicherweise genau hier. Was das für das Niedermoor bedeutet – und für die Sehlder Bevölkerung, deren Nerven bereits durch andere Projekte in der Region stark strapaziert sind – das hat die Bürgerinitiative „Pro Sehlde“ am vergangenen Samstagnachmittag einigen extra angereisten Politikern nahe gebracht.

Die Bundestagsabgeordneten Ute Bertram (CDU) und Bernd Westphal (SPD) sowie der Landtagsabgeordnete Klaus Krumfuß (CDU) konnten sich auf einer Treckerrundfahrt ein Bild davon machen, wo genau aus Sehlder Perspektive die Schwierigkeiten liegen: Aus Platzgründen kann die geplante Stromtrasse Südlink zwischen den Ortschaften Mehle und Sehlde nicht an der bereits bestehende 380 KV – Leitung entlanggeführt werden. Deshalb zweigt sie kurz vor Sehlde ab, um das Dorf zu umrunden und am Ende wieder auf die alte Trasse zu treffen. Sehlde wäre dann in allen Himmelsrichtungen von Stromtrassen umgeben. Die Befürchtungen der Sehlder sind ganz unterschiedlich und betreffen neben der Sorge um gesundheitliche Auswirkungen auch die Wertminderung der bestehenden Immobilien, die Gefährdung der Wellbornquelle, aus der Sehlde sein gesamtes Trinkwasser bezieht und die Beschneidung aller möglicher zukünftiger Bauvorhaben durch eine Einkesselung des Ortes.

Eine alternative Trassenführung vorzuschlagen, so wie es der verantwortliche Netzbetreiber TenneT immer wieder auf Info – Veranstaltungen einfordert, dazu mochte sich hier trotzdem noch keiner durchringen. Denn gerade in Sehlde merkt man, was passieren kann, wenn Ortsunkundige am grünen Tisch ein solches Projekt planen: da wird manches Kleinod gar nicht wahrgenommen, was Ortsansässigen lieb und teuer ist – so wie das Sehlder Niedermoor mit seinen Wiesen. Dieses kommt weder auf den Planungskarten von TenneT noch auf den Plänen zur K+S – Pipeline vor. Aber hierin sind sich alle Sehlder einig: Das Niedermoor muss geschützt werden!

Wodurch genau das Moor gefährdet ist bekamen die Politiker auf der Rundfahrt von Bodenkundler Dr. Erich Pluquet erklärt, der durch seine Berufserfahrung über weitreichende Kenntnisse auf diesem Gebiet verfügt. Anhand einer Probebohrung erläuterte er die Entstehung und den Aufbau eines Niedermoores, welches für diese Region eine ökologisch wertvolle und seltene Landschaftsform darstellt. Wenn nun in einem Niedermoor in großem Stil gegraben wird – sei es, um eine Pipeline zu verlegen oder um einen Strommasten zu setzen – ist das ein äußerst riskantes Unterfangen. Untere Bodenschichten könnten durch Unachtsamkeit nach oben gekehrt werden, wo sie dafür sorgen würden, dass nichts mehr wächst. Die Lehmschicht, die das Grundwasser auf einem hohen Level hält, könnte durchstoßen werden, so dass das Wasser abfließt und das Moor trocken fällt. Allein schon die Baumaßnahmen zu solchen Mammutprojekten würden die Flora und Fauna in Sehlde schwer beeinträchtigen und schlimmstenfalls das Niedermoor zerstören.

Und dann sind da ja noch die Einwohner des Dorfes … Die Sehlder Wiesen sind so etwas wie ein Naherholungsgebiet für die Sehlder, die hier ihre Hunde – Runden drehen, joggen und walken, und manchmal, so wie am Sonnabend, mit Spaten und Harken bewaffnet ausziehen, um mit den Kindern des Dorfes eine kleine Ackerfläche zu bestellen. Kartoffeln, Mohrrübensaat, Sonnenblumenkerne – alles wird von kleinen Händen sorgsam in den vorbereiteten Boden gelegt… und im Herbst wird dann gemeinsam geerntet. Unter Hochspannungsleitungen würde das wohl niemand mehr tun wollen – und ein Stück Dorfleben wäre verschwunden. Um den angereisten Politikern auch dieses Problem vor Augen zu führen, harrten einige kleine und große Gärtner trotz Kälte und Regen an dem am Vormittag bestellten Feld aus und wurden durch das rege Interesse der Gäste belohnt.

Am Ende der Treckerrundfahrt tat es gut, bei Kaffee und Kuchen noch einmal im Warmen über die hohe Zahl an belastenden Faktoren zu sprechen, die das kleine Dorf Sehlde bedrängen. In der abschließenden Diskussion wurde deutlich, dass es hier nicht darum geht, gegen Alles zu sein – auch wenn es neben dem Kuchen selbstgebackene „Anti – Trassen – Kekse“ gab. Auch in Sehlde sind viele froh, wenn der Atomkraft endlich der Rücken gekehrt wird – aber dabei dürfen die Anwohner der geplanten Trasse nicht auf der Strecke bleiben. Und Storch und Rotmilan wollen schließlich auch noch in ein paar Jahren ihre Nahrung in den Wiesen finden. Hier im Niedermoor ist ihr Tisch reich gedeckt.

Text: Anne-Christin Ruhnke-Ladwig / Bilder: Marion Haus

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